· 

Wie viel Sex muss sein? Gar keiner – und warum das völlig in Ordnung ist

Wie oft haben Sie Sex? Eine dieser Fragen, die selten laut gestellt, aber heimlich dauernd gedacht wird. In Beziehungsratgebern, auf Social Media oder zwischen den Zeilen in Gesprächen: Es scheint, als gäbe es eine heimliche Messlatte für ein „gesundes“ Liebesleben: zwei- bis dreimal pro Woche, heißt es. Doch wer legt das eigentlich fest? Und was, wenn die ehrliche Antwort lautet: gar nicht?

Das gesellschaftliche Maßband für Sexualität

Sex gilt als Symbol für Liebe, Vitalität und Beziehungsglück. Wer wenig oder keinen Sex hat, fühlt sich schnell defizitär. Werbung, Filme und Social Media nähren das Bild vom „perfekten“ Sexleben. Wir leben in einer übersexualisierten Kultur – und gleichzeitig mit minimaler Kompetenz, unsere Bedürfnisse wirklich zu spüren, zu benennen und mitzuteilen.

 

Früher galt eine platonische Beziehung als wertvoll. Heute gilt: Kein Sex? Dann stimmt doch was nicht. Aber vielleicht stimmt gerade dann alles.

Wenn Leistung wichtiger wird als Lust

Unsere Sprache ist reich an Wörtern über Sex, aber arm an achtsamer Kommunikation darüber. Schimpfwörter über verlorene Leidenschaft gehen leicht über die Lippen, doch Bedürfnisse auszudrücken fällt schwer. Wir haben gelernt, zu performen, aber nicht zu spüren. Pornos und soziale Medien haben ein Leistungsbild von Sexualität geschaffen, das mit Achtsamkeit wenig zu tun hat. Selbst Solosex ist oft ergebnisorientiert: Hauptsache, es funktioniert. Doch wie wäre es, innezuhalten und zu fragen: Wie fühlt sich das an? Was mag ich wirklich?

Beispiele aus der Sexualberatung

In der Praxis erlebe ich, wie stark Paare unter diesem Leistungsdruck leiden.

Ein Paar schilderte mir ausführlich, wie oft sie Sex haben – und warum es nicht mehr ist. Auf meine Frage, ob es einen Leidensdruck gebe, sagten beide: Nein. Damit war das Thema erledigt. Der Druck, „richtig“ zu funktionieren, war größer als das eigentliche Problem.

 

Ein anderes Paar, kurz nach der Geburt ihres Kindes, stellte fest: Der ganze Tag war voller Körperkontakt. Also entschieden sie sich für Quickies statt Kuscheln. Kurz, intensiv, ehrlich – und beide waren zufrieden. Bis sich die Bedürfnisse wieder verändern.

 

Und dann sind da die Frauen, die Sex haben, obwohl sie gar nicht wollen – aus Pflichtgefühl, aus Angst, aus Gewohnheit. Dabei wäre es oft klüger, weniger Sex zu haben, um die Lust wiederzufinden.

Was ist wirklich Sex?

Sex ist mehr als Penetration. Es gibt unzählige Formen von Intimität: Körperkontakt, Blicke, Gespräche, Zärtlichkeit. Unser Nervensystem reagiert nicht auf Statistik, sondern auf Berührung und Präsenz. Wir brauchen Körperkontakt zur Beruhigung, aber nicht immer als Sexualakt.

 

Sexualität ist fluide. Sie darf sich verändern – mit Lebensphase, Alter, Beziehung, Vorlieben oder Geschlecht. Wichtig ist nur, dass sie zu Ihnen passt.

Leidensdruck als entscheidendes Kriterium

Nicht die Häufigkeit zählt, sondern der Leidensdruck. Wenn alle zufrieden sind, gibt es keinen Grund für Veränderung. Wenn Unzufriedenheit auftaucht – egal ob „ich will mehr“, „ich will anders“ oder „ich will gar nicht“ – dann lohnt sich das Hinschauen.

 

In der Sexualtherapie zeigt sich oft: Es geht weniger um Sex selbst, sondern um Kommunikation, Scham, Selbstbild und Nähe. Sexualität ist selten das Problem – sie ist der Spiegel.

Sex soll nähren, nicht zehren

Sex ist kein weiteres Selbstoptimierungsprojekt. Kein Beweis für Liebe oder Gesundheit. Kein Wettbewerb. Er darf Freude, Spiel, Verbindung oder einfach Pause sein.

Weniger kann sehr verbunden sein. Gar keiner kann sehr friedlich sein. Entscheidend ist, dass Ihre Sexualität zu Ihnen, Ihrer Beziehung und Ihrer Lebensphase passt.

 

Denn der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können.


Wenn Sie merken, dass dieses Thema Sie beschäftigt – ob als Paar oder allein – begleite ich Sie gern in meiner Praxis in Kassel oder online! Abonnieren Sie gerne unten meinen Newsletter für Impulse rund um Lust, Liebe und Beziehungsdynamik.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0