Warum das Patriarchat auch Männern die Sexualität raubt
In den letzten Monaten habe ich immer wieder über Konsens und Lust geschrieben – über die Rollenbilder, die Frauen tragen, und über das stille Selbstverständnis, dass weibliche Lust oft „verfügbar“ sein soll, selbstverständlich, möglichst immer.
Viele Frauen, die zu mir kommen, fragen sich irgendwann verzweifelt:
„Was stimmt mit mir nicht?“
„Ich muss doch wollen – sonst geht unsere Beziehung kaputt.“
Der Druck ist groß. Der Ursprung ist bekannt: das Patriarchat – mit seinen starren Vorstellungen davon, wie Frauen zu sein haben. Aber:
Es bleibt nicht bei den Frauen stehen.
Auch Männer leiden. Still. Und manchmal mit dem Körper.
„Ich funktioniere nicht – und das macht mich fertig“
Ein junger Mann kam zu mir in die Praxis.
Manager. Erfolgreich. Gutaussehend. Durchtrainiert.
Einer, der auf den ersten Blick alles „richtig“ gemacht hat.
Sein Thema: Erektionsstörungen.
Und seine Frage: „Warum klappt das nicht mehr?“
Er hatte alles versucht: mehr Sport, dann weniger Sport, Nahrungsergänzungsmittel, Alkohol weggelassen, Ernährung umgestellt, sogar mit Atemübungen experimentiert. Natürlich auch Medikamente – aber selbst die halfen nicht zuverlässig.
Was blieb, war Scham. Verzweiflung. Und das Gefühl, zu versagen.
„Du musst deinen Mann stehen“ – oder?
Im Gespräch kamen wir schnell auf das, was im Hintergrund wirkte.
Nicht nur sein Körper. Sondern eine ganze Armee an Stimmen, Bildern und Erwartungen. Unsere Sprache ist voll davon:
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„Du musst deinen Mann stehen.“
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„Was bist du denn für ein Schlappschwanz?“
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„Richtige Männer können immer.“
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„Ein echter Mann weiß, was er will.“
Und spätestens bei der Sexualität zeigt sich: Diese Sätze brennen sich ein. Sie beeinflussen Selbstbild, Körperwahrnehmung, Lust – und blockieren.
Der Männerstammtisch in seinem Kopf
Um dem Ganzen ein Bild zu geben, habe ich ihn eingeladen, mal hinzuhören, wer da eigentlich alles mit am inneren Tisch sitzt, wenn er sich Nähe oder Sexualität wünscht. Und es wurde schnell voll:
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Der Pornostar: „Ich kann immer. Überall. Unbegrenzt lange.“
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Der Vater: „Das war bei uns nie ein Problem.“
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Der Kollege: „Männer wie wir denken da nicht lange drüber nach.“
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Der Kritiker: „Das packst du eh nicht.“
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Der Unsichere: „Wie sieht das denn aus, wenn ich nicht kann?“
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Der Zauderer: „Besser gar nicht erst versuchen.“
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Das traurige Kind: fand keine Worte.
Ganz schön viel Meinung, ganz schön viel Erwartung – und ganz schön wenig Raum für echte Gefühle.
Vom Funktionieren zur Begegnung
Also haben wir den Stammtisch moderiert.
Wer darf bleiben, wer darf gehen? Wer darf leiser werden? Und: Wem wollen wir überhaupt zuhören? Wir haben mit dem Pornostar
aufgeräumt, dessen unendliche Erektion nur mit Medikamenten, Penispumpe und manchmal auch mit Spritzen in den Schwellkörper aufrecht erhalten wird. Den Kritiker gefragt, ob er auch etwas
sinnvolles zum Gespräch beitragen möchte. Mit dem Zauderer geklärt, dass ihm da etwas ziemlich tolles entgeht - und das Kind in den Arm genommen.
Mit der Zeit kamen neue Stimmen dazu:
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Der Liebende: still, offen, zugewandt.
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Der Lustvolle: neugierig, verspielt – mit der Frage: „Geht Befriedigung nicht auch ohne Erektion?“
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Und schließlich: Er selbst. Mit seinen Bedürfnissen nach Nähe, Intimität, Berührung, emotionaler Verbindung. Nicht als Leistung – sondern als Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit.
Gleichberechtigung bedeutet: weniger Druck. Für alle.
Diese Geschichte ist kein Einzelfall.
Ich erlebe immer wieder: Das Patriarchat ist nicht nur eine Zumutung für Frauen. Es ist auch ein Gefängnis für Männer.
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Es raubt ihnen die Erlaubnis zur Verletzlichkeit.
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Es reduziert Sexualität auf Funktionieren.
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Es lässt keinen Platz für Unsicherheit, Zweifel oder Weichheit.
Echte Gleichberechtigung – und das meint bei mir: sexuelle und emotionale Gleichberechtigung – heißt: Mehr Raum. Mehr Menschsein. Weniger
Druck.
Und davon profitieren alle Geschlechter.